Text

Kurzgeschichte von Suna Elbasi

Ernte

Ich drehe meinen Kopf und schaue dem blauen Schild nach. Mist! War es diese oder doch die nächste?
Was nützen einem Wegweiser, wenn man den Weg nicht mehr erkennt? Das Auto hinter mir hat sich zu einem Heckscheibe füllenden Format aufgebäumt. Ich trete das Gas durch bis auf den Boden. Die Tachonadel schiebt sich langsam hoch. Der Fremdkörper hinter mir entfernt sich wieder. Unverändert bleibt nur die Landschaft an meiner Seite. Dunkelgrün und dicht gedrängt, stehen die Tannen aufrecht und stolz beisammen. Sie bilden Inseln gegen die offene Weite der Felder. Mein Ziel rückt näher. Die Vorfreude platzt mir in Melodien aus der Kehle. Ich singe lauthals zu den Liedern im Radio. Wie wohl die vorbei rasenden Audifahrer mich belächeln, wenn mein Mund weit aufgerissen, doch stumm anzusehen, neben ihnen auftaucht? Kurz in ihren Rückspiegeln aufblitzt und wieder verschwindet? Ich setzte den Blinker. Optimistisch und in Hochstimmung fahre ich ein bisschen zu schnell in die Kurve hinein. Ich halte das Lenkrad stark gegen und erblicke mit aufgerissenen Augen bekanntes Umfeld. Bingo! Richtige Ausfahrt!
Ein freier Blick, der durch keine Häuserzeilen gelenkt und blockiert wird. Keine Menschen, die unruhig vor Fassaden hin und her ziehen. Nur ein paar Kornblumen am Wegesrand, die Hälse der Mittagssonne entgegen gereckt, die sich vom Wind vertrauensvoll hin und her wiegen lassen. Ich kurbel das Fenster hinunter. Überall liegt der Geruch von geschnittenem Gras in der Luft. Die Heuballen warten darauf in die Scheunen gebracht zu werden. Ich erreiche die Brücke, die unter der Autobahn hindurch führt. Jetzt nur noch der Straße am Bachlauf entlang folgen und ich bin in wenigen Minuten da. Vereinzelt schaut schon ein Haus durch die Bäume. Als Kinder haben wir genau an dieser Stelle immer die Hände an der Autotür gehabt. „Ich bin zuerst bei Oma!“ „Nein ich!“. Verloren dabei hat meist meine jüngere Schwester, weil sie als kleinste immer in der Mitte sitzen musste. Es scheint, als wäre nicht ein Tag dazwischen vergangen. Die Freude auf das Bei-ihr-sein ist nicht einen Hauch geschrumpft. Vielleicht sogar etwas gewachsen. In diesen Tagen muss ich sie mit niemandem teilen. Diesen Sommer habe ich beschlossen, sie zum ersten Mal ganz allein zu besuchen. Ich biege langsam die lange Schotterauffahrt hinter ihrem Haus ein. Ein vertrautes, knisterndesdes Geräusch der Räder auf den kleinen harten Steinen. Der rankende Wein hat mittlerweile auch die Rückseite des Hauses erobert. Der Kater schleicht um die Regentonne und nimmt von meiner Ankunft keine Notiz.
Langsam öffne ich die Wagentür und steige aus, während das kleine Mädchen von damals längst an mir vorbei gerannt ist und das Gartentor erreicht hat. Ich öffne das kleine Holzgatter und gehe aufgeregt um die Häuserecke, auf ihre breite Terrasse vor dem Haus zu. Und da sitzt sie. In ihrem alten Gartenstuhl. Im Schatten des Baumes. Den Gehstock an der Wand. Eine große Schüssel voll Äpfeln in ihrem Schoß, blickt sie mich über ihren Brillerand an. Ein Lächeln breitet sich in ihrem Gesicht aus. Sie stellt die Schüssel auf den Tisch, greift den Stock und richtet sich auf. Ich umarme sie so fest ich kann. Es ist immer ein Wettbewerb zwischen uns, wer länger und fester drücken kann. Sie wiegt mich in der Umarmung, ruhig und lange. Ein vertrauter warmer Duft umhüllt mich wie ein schützender Mantel. Ich schließe die Augen und atme einen tiefen Schluck davon ein.
Dann löst sie und sagt: „Setz dich- wie war deine Reise?“
„Gut!“
Stolz strecke ich die Wagenschlüssel wie eine Trophäe in die Luft, an denen ein kleines rotes Plastikauto baumelt.
„Mein neuer Flitzer hat mich super über die Berge gebracht“.
Ich lasse mich in das weiche blumige Sitzpolster ihr gegenüber fallen.
„Aber die neue Ausfahrt, daran muss ich mich noch gewöhnen!“
„Bist du in den Stau gekommen?“
Sie nimmt die Schüssel zurück in ihren Schoß.
„Nein, nur in der Stadt. Bis ich auf der Autobahn war hat mich der Berufverkehr gebremst.“
Sie nimmt das Schälmesser wieder in die Hand. Diese Äpfel würden es wegen ihrers mangelhaften Aussehens nie bis in den Supermarkt schaffen. So unperfekt sie wirken, erinnere ich mich doch an ihren vorzüglichem Geschmack.
„Deine Mutter sagte mir, dass du einen Job angenommen hast.“
Kurz richtet sie ihren Blick von der Schüssel auf.
„Ja, ich verdiene zum ersten Mal wirklich eigenes Geld. Der Job macht sogar Spaß und die Kollegen sind nett. Und überhaupt ist die ganz Stadt toll, Oma. Man kann jeden Tag dort etwas anderes machen.“
Ihre Hände, zart wie Pergamentpapier und mit blauen dicken Adern überzogen, greifen immer wieder flink in die Schüssel und schälen jeden Apfel mit Sorgfalt.
„Wenn man ins Kino will, dann guckt man nicht, was für Filme laufen sondern man setzt sich hin und überlegt `was wollte ich denn schon immer mal sehen? ` Fellinis: Das süße Leben zum Beispiel. Und dann muss man nur noch schauen, in welchem Kino der gerade läuft. Toll, oder?“
„Ja, das klingt aufregend.“
Murmelt sie während sie mit dem kleinen rostigen Messer geübt die braunen Stellen weg schneidet und gut von schlecht trennt.
„Wir wohnen jetzt im fünften Stock im Altbau und haben den ganzen Tag Sonne! Zwar ohne Fahrstuhl und mit viel Lärm von der Straße, aber wir sind froh, überhaupt etwas Erschwingliches gefunden zu haben.“
Mein Blick schweift über den großen Hof und erinnert mich, wie wir als Kinder oft Zirkusvorstellung darin gespielt haben.
„Ich hab dir eine Limonade gemacht und deinen Lieblingskuchen gebacken.“
Ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben, zeigt sie mit dem Kinn auf die Fensterbank hinter mir. Ihre silbernen Locken wippen dabei. Ich drehe mich um und sehe die Glasglocke, unter der der beste Frankfurter Kranz der Welt steht.
„Und heute Abend gibt es Reiberdatschi mit frischem Apfelmus.“
„Ach Oma!“ Ich drücke sie ungestüm über ihre Äpfel hinweg. Sie rückt ihre Brille wieder auf die Nase und ich laufe schnell los, meine Tasche aus dem Auto zu holen. Ich komme zurück und stelle sie sogleich wieder auf der Terrasse ab um ihre Nähe nicht zu verpassen.
Der Turm von Schalen zwischen uns wird immer größer und ihr süßlicher Duft lockt Wespen an. Sie teilen friedlich mit uns die Sonnenstrahlen des Spätsommers. Der Kater taucht in den Blumen neben uns auf und springt über deren Spitzen wie ein Grashüpfer. Dann erblicken wir einen Frosch auf der Flucht vor ihm, er sieht uns Hilfe suchend an. Wir lachen herzlich über diese beiden Sprungkünstler.
Während der Kater sein Spielzeug vor sich her treibt und sich überlegt, ob er daraus später wohl noch eine Mahlzeit bereitet, macht sich auch die Sonne langsam daran, gänzlich hinter der alten Scheune zu verschwinden. Die Zeit verstrich so launig leise, das wir es kaum bemerkten.
„Wollen wir nicht reingehen, Oma?“
„Ach warte. Nur einen kleinen Moment noch.“
Die Äpfel liegen schon lange fertig in der Schüssel und werden langsam bräunlich.
„Soll ich die Äpfel schneiden und aufsetzen?“
„Lass nur, ich mach das gleich.“
Ich nehme ihre feine Porzellantasse und schenke ihr Tee nach. Sie nippt einen kleinen Schluck und sieht dabei den Vögeln zu, wie sie auf den Zaunspitzen sitzen. Irgendwo dort bleibt ihr Blick im leeren stehen.
„Nächstes Frühjahr komme ich dich besuchen. In deiner Stadt. Ganz bestimmt.“
Ich bücke mich nach meiner Tasche um ihr voller Vorfreude darauf meine neuen Visitenkarten zu geben. Die einen habe ich von meiner Firma gedruckt bekommen. In einem edlen Etui. Und die anderen, von meiner besten Freundin, mit der neuen Wohnadresse. Ich blicke hoch um sie ihr beide zu überreichen und sehe wie sie wohl müde über ihren letzten Satz eingeschlafen ist. Zufrieden sieht sie aus. Die Hände in den Schoß gefaltet. In ihrer bunten Schürze und dem Rock darunter, den sie so gerne trägt. Dieser Rock war in Kriegszeiten schon mal eine Strickjacke gewesen, hatte sie mir beim letzten Besuch erzählt. Denn ich konnte es einfach nicht fassen, wieso der eigentlich nie Knötchen kriegt. Aufgetrennt und neuverstrickt, habe Sie ihn. Wie lange ist dieser Rock schon Rock? Vierzig Jahre? Fünfzig? Wieviel Jahre war er davor Strickjacke? Und wann hatte sie den Opa damals kennen gelernt? Noch zu Strickjackenzeiten, oder schon zu Rockzeiten? Warum starb er so früh? Hat sie in sehr geliebt? Morgen muss ich sie unbedingt genauer zu dieser Zeit befragen. Ich stehe auf, um ihr eine Decke zu holen, denn langsam wird das Blau am Himmel zu Schwarz und ganz schön kalt. Ich drücke die schwere Haustür zur Diele auf. In ihr ist alles beim Alten. Die Milchkanne, die als Schirmständer dient rechts, der Hut auf ihrer Garderobe links. Die Holztür zur Waschkammer in purpur rot und wie immer war es etwas zu feucht und kühl in diesem Raum. Ich drücke die Tür zur Wohnstube auf und erschrecke. Die Hängeschränke sind leer und die Türen stehen weit offen. Unsere Salzteig Bilder hängen schief an der Wand. Alle Möbel darunter sind verschwunden. Dort wo einst ein alter, grauer Linoleumboden war, sind nur noch rohe Holzbalken. Dazwischen klafft die Erde auf und darin liegt ihre Schürze ganz verdreckt. „Oma! Was ist denn hier passiert?!“ Ich drehe mich um und laufe raus.

Der Bewegungsmelder geht an. Aber niemand sitzt auf dem braunen Gartenstuhl vor dem Haus. Die Äpfel liegen vergessen und verfault auf dem Boden unter dem alten knorrigen Baum. Ein kalter Wind durchstreift seine Äste. Ich bin zu spät gekommen, zu spät sie aufzuheben.